Vergleichendes Sehen:
Der nachgeahmte ägyptische Stil

Das Ganze hat eine Aegyptische Gestalt, aber die Teile haben nicht die Aegyptische Form. Die Brust, welche an den ältesten Männlichen Figuren platt lieget, ist hier mächtig und heldenmäßig erhaben: die Rippen unter der Brust, welche an jenen gar nicht sichtbar sind, erscheinen hier völlig angegeben: der Leib über den Hüften, welcher dort sehr enge ist, hat hier seine rechte Fülle: die Glieder und Knorpel der Knie sind hier deutlicher, als dort gearbeitet: die Muskeln an den Armen und andern Teilen, liegen völlig vor Augen: die Schulterblätter, welche dort wie ohne Anzeige sind, erheben sich hier mit einer starken Rundung, und die Füße kommen der Griechischen Form näher. Die größte Verschiedenheit aber lieget in dem Gesichte: welches weder auf Aegyptische Art gearbeitet, noch sonst ihren Köpfen ähnlich ist. Die Augen liegen nicht, wie in der Natur, und wie an den ältesten Aegyptischen Köpfen, fast in gleicher Fläche mit dem Augen-Knochen, sondern sie sind nach dem Systema der Griechischen Kunst tief gesenket, um den Augen-Knochen zu erheben, und Licht und Schatten zu erhalten. Die Form des Gesichts ist vielmehr Griechisch […].

J. J. Winckelmann, Geschichte der Kunst des Altertums (1764) p. 57

links: Statuette des Ipi (ca. 2400 v. Chr.), Kalkstein

rechts: Römische Statue in ägyptisierendem Stil
(um 135 n. Chr.), grauer Marmor

München, Staatliches Museum Ägyptischer Kunst

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