Ergänzungen erkennen:
Grundprinzip kritischer Objektanalyse

Schon am Anfang seiner archäologischen Tätigkeit in Rom wurde Winckelmann auf eine besondere Schwierigkeit aufmerksam, die es bei der Interpretation antiker Skulpturen zu beachten galt: Gerade die für die Deutung wichtigen Teile waren bei vielen Stücken modern ergänzt. Um die bruchstückhaft aufgefundenen Skulpturen ansehnlicher zu machen, war es seit dem 16. Jahrhundert üblich, sie von (mehr oder weniger geschickten) Restauratoren vervollständigen zu lassen. Da oft nur der Torso einer Figur erhalten war und die Gliedmaßen fehlten, mussten ursprüngliches Haltungsmotiv und Attribute erraten werden. Dabei kam es zu teilweise grotesken Fehleinschätzungen.

Unter dem Titel Von der Restauration der Antiquen plante Winckelmann schon früh eine eigene Schrift zu diesem Thema, die er aber nie abschloss. Erst Christian Gottlob Heyne widmete dem Problem 1779 eine methodisch zukunftsweisende Abhandlung. Ohne selbst in Rom gewesen zu sein, konnte er allein anhand der publizierten Literatur viele Irrthümer in der Erklärung alter Kunstwerke aus einer fehlerhaften Ergänzung aufdecken. Die kritische Scheidung von Originalsubstanz und späteren restauratorischen Eingriffen gehört seither zu den Grundlagen professioneller archäologischer Objektanalyse.

Zu den kuriosesten Fehlergänzungen eines antiken Torsos gehört der
„Sterbende Gladiator“ im Kapitolinischen Museum in Rom – in Wahrheit eine Kopie des berühmten Diskuswerfers des Myron, wie erst 1781 nach der Entdeckung eines vollständiger erhaltenen Exemplares klar wurde.

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